Mario Berkefeld: „In der Politik leben wir immer auf vulkanischem Boden“

In einer Zeit, die mit unserer Gegenwart durchaus vergleichbar ist, sammelten sich bedeutende Denker um die aufstrebende Zeitschrift „Logos“. Der Theologe Mario Berkefeld schreibt für die Junge Akademie über diese Zeitschrift, die Anfänge der Kulturphilosophie, Ernst Cassirer und die Hoffnungslosigkeit des Fatalismus.

„Stellen Sie sich vor, Sie könnten die Jahre von 1900 bis 1914 ohne die langen Schatten ihrer Zukunft sehen, als lebendige Momente in all ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit, mit ihrer noch immer offenen Zukunft – denn das, eine offene Zukunft und die Hoffnung, die daraus entspringt, ist das Kostbarste, was eine Zeit besitzen kann.“[1]

Mit diesen Worten lädt der Historiker Philipp Blom dazu ein, die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg so zu betrachten, als wüssten wir nichts von den Weltkriegen und den tiefen Abgründen, die mit ihnen einhergingen. Dabei sollen im Gegensatz zu den Verzeichnungen dieser Vorkriegszeit als Paradies vor dem Sündenfall die Sorgen einer unsicher werdenden Zeit in den Blick geraten. Mit seinem Buchtitel Der taumelnde Kontinent versucht Blom, diese Zeitstimmung auf den Begriff zu bringen. Eine seiner Pointen ist, dass diese Zeit mit unserer in vielen Zügen vergleichbar ist.

Die Zeit, die Blom auf diese Weise zu begreifen versucht, ist auch die Zeit der aufstrebenden Kulturphilosophie. Ihr zentraler Begriff, die Kultur, markiert selbst den Problemkreis, auf den die Philosophie der Kultur eine Antwort geben möchte. Stand Kultur bei Johann Gottfried Herder Ende des 18. Jahrhunderts noch für eine Ordnung, die jeden Menschen in den heilsamen Prozess der Humanisierung stellt, wenn auch in unterschiedlichen Graden des Fortschritts, so hatten die Erfahrungen des 19. Jahrhunderts einen starken Bedeutungswandel des Kulturbegriffs zur Folge.[2] Er wurde zur Chiffre einer durchaus als besorgniserregend wahrgenommenen Eigendynamik des geistig-sozialen Lebens. Mit dieser Dynamik umzugehen war die Aufgabe der entstehenden Kulturphilosophie.

„Logos“ als Manifest der Kulturphilosophie

Der Literaturnobelpreisträger aus dem Jahr 1908, Rudolf Eucken, setzte sich für die internationale Verbreitung der Kulturphilosophie ein. Im Jahr 1910 wurde die Zeitschrift Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur unter Mitarbeit Euckens ins Leben gerufen, welche als die wichtigste kulturwissenschaftliche Zeitschrift des frühen 20. Jahrhunderts gelten kann.[3] Zu den Mitwirkenden gehörten bereits zur ersten Ausgabe neben Eucken so bedeutsame Denker wie Edmund Husserl, Heinrich Rickert, Georg Simmel, Max Weber und Ernst Troeltsch. Die ersten vier programmatischen Seiten dieser Zeitschrift können als Manifest der Kulturphilosophie gelten. Dort heißt es:

„Unsere Zeit steht nicht unter der Herrschaft eines Systems der Philosophie, sondern sie hat ihre Bedeutung mehr in der Mannigfaltigkeit und Feinheit philosophischer Kleinarbeit, die aber schließlich ihren letzten Sinn doch nur in einer Systembildung enthüllen kann. Als Vorbereitung und Unterlage hierfür braucht sie eine philosophische Durchdringung der verschiedensten Kulturgebiete, insbesondere der Wissenschaft, der Kunst, des sozial-ethischen, des rechtlichen, staatlichen, nationalen Lebens, der Religion u.s.w. Es gilt, die ganze Fülle der in der Kultur vorhandenen und treibenden Motive in das philosophische Bewußtsein zu erheben. Darum bezeichnet sich der Logos als eine Zeitschrift für Philosophie der Kultur.“[4]

Hervorzuheben ist hier erstens die Klage über eine sich in Kleinstarbeit verabschiedende philosophische Praxis, die solange sinnlos bleibt, bis sie wieder in ein System gegossen wird, zweitens die Hinwendung zu den Einzelwissenschaften, welche jeweils einzelnen Teilbereichen der Kultur zugeordnet sind und drittens die Aufgabe der Durchdringung und Zusammenführung der Einzelwissenschaften durch die Philosophie.

Im weiteren Verlauf der kurzen programmatischen Selbstverortung des kulturphilosophischen Programms der Zeitschrift wird ihr internationaler und undogmatischer Charakter betont. Trotz einer Nähe zum Neukantianismus gibt sich die Zeitschrift betont offen für alle Schulrichtungen der Philosophie, sowie für die Jurisprudenz, Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre, Kunstwissenschaft und Theologie. Geeint werden die verschiedenartigen Bestrebungen durch ein gemeinsames Ziel:

„Die Philosophie der Kultur muß überall die Vernunft in der Kultur suchen, und deshalb hat diese Zeitschrift den Namen ‚Logos‘ erhalten. […] Nur die Vernunft gibt dem Kulturleben, das die Einzelwissenschaften in seiner Tatsächlichkeit erforschen, Sinn und Bedeutung.“[5]

Die Kulturphilosophie möchte einem Sinndefizit entgegentreten, das sich ergeben habe. Gleich der erste Aufsatz der Zeitschrift, Heinrich Rickerts Vom Begriff der Philosophie, zeugt von dem Legitimationsdruck, dem eine Frage nach Sinn und Bedeutung des kulturellen Lebens ausgesetzt ist.[6] Doch woher rühren dieses Sinndefizit und dieser Legitimationsdruck? Für beides werden die (Natur-)Wissenschaften angegeben werden können: Der oft beschworene Erfolgszug der empirischen Wissenschaften und die dadurch erreichten technischen Möglichkeiten greifen auf nahezu alle Lebensbereiche und Wissenschaften aus. Besonders die Philosophie ist dadurch in eine Konkurrenzsituation geraten. Positivismus, Materialismus und Relativismus sind Schlagworte für Philosophien, die versuchen diesem Aufstieg der Wissenschaften gerecht zu werden und sich dabei selbst den Boden unter den Füßen wegziehen. Die Aufgaben der Philosophie werden so auf unterschiedliche Weise an andere Wissenschaften überantwortet. Man denke zum Beispiel daran, dass Philosophielehrstühle verbreitet durch experimentelle Psychologen besetzt wurden.[7] Besonders Fragen nach Sinn und Bedeutung bleiben aus oder werden als Formen des Relativismus aus dem Kanon der Wissenschaften ausgewiesen. An die Stelle der philosophischen Frage nach dem Sinn von alldem, so die Klage, ist nichts oder absolute Beliebigkeit getreten.

Max Weber stellt mit seinem berühmten Konzept der Entzauberung der Welt zwar fest, dass weniger die wissenschaftlichen Ergebnisse die Kultur durchdringen, als vielmehr der Glaube an ihre Erklärungskraft:

„Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt.“[8]

Jedoch beklagen Weber und die Kulturphilosophen ein verbreitetes Missverständnis der Art von Erklärung, die uns die Naturwissenschaften geben können. Naturwissenschaftliches Erklären kann, recht verstanden, nur weltanschaulich neutral sein und sollte es daher auch sein. Dennoch bildet es oft einen weltanschaulichen Überschuss aus. Die empirische Wissenschaft überschreitet ihre Befugnisse, wenn sie versucht, nicht nur zu beschreiben, wie sich etwas verhält, sondern auch, was all das zu bedeuten hat und wie wir uns dazu zu verhalten haben. Heute werden von Philosophinnen und Philosophen gerade den populären Zweigen der Neurowissenschaften ein solcher weltanschaulicher Überschuss attestiert.[9] Während der frühe Wittgenstein ein Schweigen über letzte Sinnfragen verordnet, bemüht sich die junge Kulturphilosophie um einen wissenschaftlichen Umgang mit ihnen. Deutlich wird dies in Edmund Husserls Programm der Philosophie als strenger Wissenschaft, welches er in seinem ersten Logosaufsatz formuliert. Troeltsch hingegen fragt nach den Zukunftsmöglichkeiten des Christentums und betont dafür die Symbiose von Glauben an Christus und dem Glauben an den Logos. „Das ist nicht nur ein Wortspiel, sondern das Wesen der Sache, heute wie damals.“[10] Simmels berühmtester Aufsatz Der Begriff und die Tragödie der Kultur fängt am prägnantesten die als besorgniserregend wahrgenommene Eigendynamik kultureller Prozesse ein und stimmt mit dem Konzept einer Tragödie der Kultur einen resignativen Ton an. Diese verschiedenen Versuche verstanden sich als Arbeit an einer humanen Kultur. Die Kultur wird so als ein Mittel und ein Prozess erkannt, den Menschen zu sich selbst zu führen. Dabei treffen ganz unterschiedliche Bestimmungen, Hoffnungen und Sorgen aufeinander. Ist der Kulturprozess ein Fortschritt oder ein Rückschritt des Menschen? Stimmt er uns optimistisch oder pessimistisch?

Die weitere Geschichte der Zeitschrift Logos zeigt selbst eine Tragödie. 1933 erschien das letzte Heft der internationalen Zeitschrift für Philosophie der Kultur und 1934 erschien die Zeitschrift für deutsche Kulturphilosophie. Neue Folgen des Logos, welche uns glauben machen will, dass allein im deutschen Geist der Logos inkarniert sein könne. Das neue Programm nach 1934 hat sich darüber hinaus mit klaren Schritten voll vom ursprünglichen Anspruch der Zeitschrift hin zur Selbstgleichschaltung verabschiedet.

II Mythos als Mutterboden und Bedrohung der Kultur

Zu diesem Zeitpunkt hat Ernst Cassirer seine deutsche Heimat bereits verlassen. Seine Frau, Toni Cassirer, führt diesen vergleichsweise frühen Schritt auf eine ganz konkrete Situation zurück: In der Biographie über ihren Ehemann Mein Leben mit Ernst Cassirer beschreibt sie folgende Begebenheit im Jahr 1933 nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler:

„Die ersten Veröffentlichungen waren nicht allzu erschreckend. Von Judenverfolgungen oder –gesetzen stand nichts darin. Als aber eines Tages eine der Hitlerschen Verordnungen hieß: ‚Recht ist, was dem Führer dient‘, sagte Ernst zu mir: ‚Wenn morgen nicht alle Rechtsgelehrten Deutschlands sich wie ein Mann erheben und gegen diese Paragraphen protestieren, ist Deutschland verloren‘. Es erhob sich keine einzige Stimme.“[11]

Nach Toni Cassirers Darstellung sollen schon damals die Einsichten Ernst Cassirers gemacht sein, die er in seinem letzten beendeten Buch The Myth of the State bis 1945 niedergeschrieben hat. Tatsächlich liefern die Ausführungen einen Erklärungsversuch, warum sich „keine einzige Stimme“ erhob. Der Mythos trat in neuer politischer Gestalt auf und brach jegliche Widerstandskraft. Damit gerät derjenige Teil der Kultur in ein neues Licht, den Cassirer fast 20 Jahre vorher im zweiten Band seiner Philosophie der symbolischen Formen, Das mythische Denken, als Mutterboden der Kultur bezeichnet hat: Der Mythos.

„Als wir zuerst die politischen Mythen hörten, fanden wir sie so absurd und unangemessen, so phantastisch und lächerlich, daß wir kaum vermocht werden konnten, sie ernst zu nehmen. Jetzt ist uns allen klar geworden, daß dies ein großer Fehler war. […] Wir sollten den Ursprung, die Struktur, die Methoden und die Technik der politischen Mythen sorgfältig studieren. Wir sollten dem Gegner ins Angesicht sehen, um zu wissen, wie er zu bekämpfen ist.“[12]

Dieser Appell fordert auf, die politischen Mythen zu begreifen, um sie letztlich unschädlich zu machen. Um deutlich machen zu können, was Cassirer hier als politische Mythen bezeichnet und inwiefern er selbst versucht hat sie und ihre Entstehung zu begreifen, muss zuvor Cassirers philosophischer Werdegang skizziert werden.

Vom Erkenntnis-Cassirer zum Kulturphilosophen

Cassirer hat von 1874 bis 1945 gelebt, er stammte aus einer wohlsituierten jüdischen Familie. Er kann als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Philosophen des 20. Jahrhunderts gelten. Die Philosophie Immanuel Kants ist das Fundament von Ernst Cassirers philosophischer Methode und auch eine Richtschnur seines Lebens. Diese feste Überzeugung, dass die philosophische Lehrform und die eigene Lebensform zusammengehören, stellt Cassirer nicht nur für Kant, gleich zu Beginn seiner großen Kantmonographie Kants Leben und Lehre von 1918 klar, es ist auch ein Charakteristikum seines eigenen Auftretens, wie Thomas Meyer in seiner Cassirer-Biographie bündig zusammenfasst: „Hinter dem Philosophen sollte der Träger einer subjektiven Meinung verschwinden, um den Wahrheitsanspruch seiner Profession in den Mittelpunkt der Stellungnahme rücken zu können.“[13] Diese Haltung hat man ihm von verschiedenen Seiten zum Vorwurf gemacht: er sei feige, nicht prägnant genug oder gar ein Relikt einer vergangenen Kulturepoche des Glaubens an eine sinnstiftende Kultur.[14]

Erstaunlicherweise hat Georg Simmel vermutlich ohne es zu ahnen Cassirer zu seinem philosophischen Weg verholfen: 1894 habe Cassirer, gemäß einer eigenen Erinnerung, zum ersten Mal von seinem zukünftigen philosophischen Mentor und Freund Hermann Cohen gehört. Simmel habe in Berlin 1894 in seiner Lehrveranstaltung gesagt: Die besten Kantbücher seien von Hermann Cohen, aber er selbst könne sie nicht verstehen.[15] Zwei Jahre später begann Cassirer in Marburg bei Cohen zu studieren und wurde so Schüler des damals wirkmächtigen Marburger Neukantianismus.

Bis zum Beginn der 1920er Jahre hat Cassirer sich ganz in den Bahnen der Marburger Schulrichtung seiner Lehrer dem Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit gewidmet. Diese Phase hat ihm den hartnäckigen Titel Erkenntnis-Cassirer in der philosophischen Welt eingebracht. Der Zeit in Marburg und der engen Zusammenarbeit mit Hermann Cohen ist Cassirer Zeit seines Lebens – trotz sachlicher Differenzen – in Grundzügen treu geblieben.[16] „Er nimmt das Faktum der Wissenschaft ohne Einschränkungen als Grundlage an; aber verwandelt mit Kant dieses Faktum wiederum in ein Problem.“[17] Eine logische Analyse eines kulturellen Faktums soll seine Voraussetzung offenlegen. Es gilt Strukturen des menschlichen Bewusstseins anhand seiner kulturellen Leistungen zu bestimmen.

1919 bekommt Cassirer einen Ruf an die Universität Hamburg und ab dieser Zeit wendet er sich explizit der Kulturphilosophie zu. Dabei bleibt er diesem Rückfragen von einem kulturellen Faktum auf die ihm zugrundeliegende Logik treu. Er wendet diese Methode allerdings freier auf verschiedenste Kulturbereiche an. So kann er eine Logik der Sprache, des Rechts, der Technik, der Kunst, der Religion usw. bearbeiten. Dieses Vorgehen ragt sehr nahe an die Forderung des kulturphilosophischen Programms aus der Logos-Zeitschrift heran. Er spricht sogar, und das mag manche provozieren, von einer Logik des Mythos, der ja gemeinhin als Gegenteil von Rationalität gilt.[18] Es geht Cassirer jedoch nicht darum das Mythische verfälschend zu rationalisieren, sondern auch hier seine Grundstrukturen zu bestimmen.

Die mythische Macht der Symbole

Diese Philosophie des Mythos nimmt eine besondere Stellung in Cassirers kulturphilosophischem Aufbruch ein. Der gesamte zweite Band seines Hauptwerkes Philosophie der symbolischen Formen ist dem mythischen Denken gewidmet. Dort bestimmt Cassirer den Mythos als Mutterboden der Kultur. Die verschiedenen Formen des kulturellen Lebens haben im mythischen Denken eine Wurzel, von der sie sich erst in einem langwierigen und kämpferischen Prozess lösen. Besonders die Philosophie musste sich den Schritt Vom Mythos zum Logos erst erkämpfen und bereits hier gibt Cassirer zu bedenken, dass dieser Fortschritt durch die ständige Gefahr des Rückfalls bedroht ist.[19]

Was meint Cassirer mit der Rede vom mythischen Denken? Das mythische Denken ist für Cassirer – von einem wissenschaftlichen Standpunkt beurteilt – durch einen Mangel gekennzeichnet: Die Bilder und Symbole, die sich der Mensch schafft, um sich und seine Umwelt zu begreifen und auch um sich zu dieser Umwelt bewusst verhalten zu können, werden nicht als Bilder betrachtet. Vielmehr werden diese Bilder selbst als eine unmittelbare Realität erfahren. Wenn ein ritueller Tänzer einen Gott darstellen will, wird er nicht als Tänzer wahrgenommen, er ist dieser Gott; wenn eine magische Zauberformel gesprochen wird, wird ihr eine direkte Macht zugeschrieben, die sachliche Sprache, so überzeugend sie auch sein mag, nicht haben kann; wenn ein heiliger Gegenstand in den Staub fällt, wird nicht nur der Gegenstand selbst, sondern auch all das, wofür er steht, besudelt. In diesen Fällen wird ein menschengemachtes Symbol so betrachtet, als wäre es nicht von Menschen gemacht. Stattdessen steht das Symbol dem Menschen als etwas Fremdes und Mächtiges gegenüber.

Einen ganz entscheidenden Fortschritt über diesen Mangel an Symbolbewusstsein hinaus schreibt Cassirer der Religion zu. Besonders das alttestamentliche Bilderverbot ist ihm ein Ausdruck eines einsetzenden Symbolbewusstseins. Hier entsteht ein Unterschied zwischen Urbild und Abbild.

„Die Religion vollzieht den Schritt, der dem Mythos als solchen fremd ist: Indem sie sich der sinnlichen Bilder und Zeichen bedient, weiß sie sie zugleich als solche – als Ausdrucksmittel, die, wenn sie einen bestimmten Sinn offenbaren, notwendig zugleich hinter ihm zurückbleiben, die auf diesen Sinn ‚hinweisen‘. Ohne ihn jemals vollständig zu erfassen und auszuschöpfen.“[20]

Bilder und Zeichen sind für das mythische Denken hingegen keine Bilder und Zeichen, sie sind keine Ausdrucksmittel, sondern selbst eine eigene Realität.

Fatalismus als mythische Zeitgestaltung

Dies ist nur eine äußerst grobe Skizze des mythischen Denkens. Cassirer hingegen entfaltet seine Bestimmung sehr aufwendig und historisch umfassend, was hier nicht wiedergegeben werden kann.  Ein Punkt ist jedoch fürs Weitere von Bedeutung. In seiner Formenlehre des Mythos versucht Cassirer die mythische Zeitgestaltung zu erfassen. Grob zusammengefasst ist die mythische Auffassung der Zeit für ihn dadurch gekennzeichnet, dass Zeit nicht als ein bloßes Nacheinander von Zeitpunkten aufgefasst wird. Zeit ist hier nichts einfach zählbares, keine quantitative Größe, sondern eine qualitative Größe. Die Zeit selbst wird als unmittelbar bedeutsam erfahren. An sie ist das Schicksal geknüpft. Gelingen oder Scheitern von Handlungen ist allein auf die Gunst der Stunde angewiesen.

„Im konkreten mythisch-religiösen Zeitbewußtsein lebt immer eine bestimmte Dynamik des Gefühls – eine verschiedene Intensität, mit der das Ich sich der Gegenwart, der Vergangenheit oder Zukunft hingibt und sie, im Akt dieser Hingebung und durch ihn, zueinander in ein bestimmtes Zugehörigkeits- oder Abhängigkeitsverhältnis rückt.“[21]

Diese Art der Abhängigkeit kann man Fatalismus nennen. Das Schicksal, nicht der Mensch, entscheidet über die Zukunft.

Diverse Spielarten des Fatalismus sind nach Cassirer auch ein entscheidendes Problem der Grundlegung der Kulturphilosophie. In seinem Aufsatz Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie von 1939 versucht Cassirer einen grundsätzlichen Mangel verschiedener Ansätze zu bestimmen. Kulturphilosophie misslingt immer dort, wo eine Art von Determinismus explizit oder implizit am Werk ist. Dieser Determinismus kann sich auf physische, psychologische oder gar auf metaphysische Gesetzmäßigkeiten berufen und doch geht er fehl. Immer dann, wenn man meint zuverlässig kulturelle Prozesse oder die Geschichte anhand zuvor gewonnener Gesetzmäßigkeiten vorherzubestimmen, wird der Faktor außer Acht gelassen, um den es in der gesamten Philosophie Cassirers geht: Die Kraft und die Verantwortung des Menschen zum freien Handeln. Mit einer Abkehr vom historischen Determinismus, der nichts anderes ist, als eine eloquente Form des Fatalismus, verliert man zwar einen gesetzlich abgesicherten Fortschrittsoptimismus, man entgeht aber auch dem „Kulturpessimismus mit seinen Untergangsprophezeiungen und Untergangsvisionen.“[22]

Der Pendelschlag der Kultur

Genau in diese Kerbe schlägt Cassirers explizite Auseinandersetzung mit Georg Simmel und seinem Konzept der Tragödie der Kultur. Simmel und Cassirer teilen viele Grundüberzeugungen: Beide heben die wechselseitige Abhängigkeit von Kultur und Leben hervor. Cassirers späte Philosophie wurde von vielen Interpretinnen oder Interpreten sogar eine größere Nähe zu Simmel als zu seinen Marburger Lehrern zugeschrieben.[23] Cassirers expliziter Aufsatz zu Simmel, Die „Tragödie der Kultur“ von 1942, zeigt jedoch ein anderes Bild. Dort ist Simmels Bestimmung einer dialektischen Struktur der Kultur etwas, das den Menschen mehr seine Ohnmacht als seine Macht vor Augen führt. Cassirer stilisiert Simmel dabei zum Mystiker.[24] Die von Simmel beklagte Ohnmacht des Menschen gegenüber einer Kultur, die sich zunehmend durch Sachzwänge vom konkreten menschlichen Leben entfernt, ruht Cassirer zufolge, einer falschen Beschreibung des kulturellen Prozesses auf. Cassirer betont gegen Simmel die Dynamik zwischen Tradition und Innovation. Gerade an der Renaissance wird für ihn deutlich, dass das eine ohne das andere nicht möglich ist:

„Eine Renaissance, die diesen Namen verdient, ist niemals eine bloße Rezeption. Sie ist nicht die einfache Fortführung oder Weiterbildung von Motiven, die einer vergangenen Kultur angehören. Oft glaubt sie es zu sein; oft kennt sie keinen höheren Ehrgeiz, als dem Vorbild, dem sie folgt, so nahe als möglich zu kommen. […] Aber die eigentlichen und großen Renaissancen der Weltgeschichte sind immer Triumphe der Spontaneität, nicht der bloßen Rezeptivität gewesen.“[25]

Auch hier klagt Cassirer die Kreativität der Freiheit ein. Zwar ist all unser Denken und Handeln abhängig von der Tradition, die uns z.B. eine Sprache gegeben hat, mit der wir uns unsere Welt erschließen und erst so in ihr selbstbestimmt handeln können. Aber diese Aneignung ist immer auch eine Neubildung. „Der Wettstreit und Widerstreit zwischen den beiden Kräften, von denen die eine auf Erhaltung, die andere auf Erneuerung zielt, hört niemals auf.“[26] So gleicht der kulturelle Prozess für Cassirer dem Schlag eines Pendels. Es mag sein, dass es mit der Zeit an Intensität gewinnt und weiter in die Richtung der Innovation oder der Tradition ausschlägt. „Dennoch wird dieses Drama der Kultur nicht schlechthin zu einer ‚Tragödie der Kultur‘. Denn es gibt in ihm ebensowenig eine endgültige Niederlage, wie es einen endgültigen Sieg gibt.“[27] Dies ist eine radikale Absage an den gesetzlichen Fortschrittsoptimismus, dem man dem Aufklärungsverehrer Cassirer oft zugeschrieben hat. Es ist allerdings auch eine genauso entschiedene Absage an jeden Skeptizismus, wie er auch bei Simmel vorzuliegen scheint. Auf diese Weise stemmt sich Cassirer gegen jeden Fatalismus, den er als ein Charakteristikum mythischen Denkens bestimmt hat.

Der politische Mythos

Bereits 1933 hat der deutsche Jude Cassirer Deutschland verlassen. Er lehrte zeitweilig in England und Schweden, aber fand letztlich sein Exil in Amerika, wo er bis zu seinem Lebensende 1945 blieb. Zuletzt hat Cassirer an dem posthum veröffentlichten The Myth of the State gearbeitet. In diesem Werk versucht Cassirer auch mit den Mitteln seiner Philosophie des Mythos, den Aufstieg des Nationalsozialismus zu begreifen.

Es ist das Zusammentreffen des instrumentellen Gebrauchs von mythischem Denken einerseits und sozialen Missständen andererseits, das eine Wiederkehr des Mythos ermöglicht hat. Mythische Sprache, die rituelle Normierung des Alltags, der Führerkult sind geistige Waffen des Totalitarismus. In Zeiten der Krise brechen sie durch an die Oberfläche:

„In der Politik leben wir immer auf vulkanischem Boden. Wir müssen auf abrupte Konvulsionen und Ausbrüche vorbereitet sein. In allen kritischen Augenblicken des sozialen Lebens des Menschen sind die rationalen Kräfte, die dem Wiedererwachen der alten mythischen Vorstellungen Widerstand leisten, ihrer selbst nicht mehr sicher.“[28]

Entscheidend zur Abschwächung der Widerstandskräfte hat nach Cassirers Urteil auch ein philosophisch vorbereiteter Fatalismus beigetragen. Als Paradebeispiele dafür gelten ihm Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes von 1918 und Martin Heideggers Sein und Zeit von 1927. Beiden unterstellt er ausdrücklich nicht, dass sie den Nationalsozialismus oder etwas Derartiges hervorgebracht hätten. Doch beschwören sie einen Schicksalsglauben:

„Eine Geschichtsphilosophie, die in düsteren Prophezeiungen über den Niedergang und die unvermeidliche Zerstörung unserer Zivilisation besteht, und eine Theorie, die in der Geworfenheit des Menschen eines seiner hauptsächlichen Charaktermerkmale sieht, haben alle Hoffnungen auf einen aktiven Anteil am Aufbau und Wiederaufbau des Kulturlebens des Menschen aufgegeben.“[29]

Diese Hoffnungslosigkeit des Fatalismus ist ein „geschmeidiges Instrument in der Hand der politischen Führer“[30].

Man hat Cassirers letztes Werk oft selbst als Ausdruck der Verzweiflung und eines nun auch beim Aufklärungs- und Renaissanceliebhabers angekommenen Kulturskeptizismus gedeutet. Dieses Urteil ist nicht ohne Anhaltspunkte. So schreibt er: „Was wir in der harten Schule unseres modernen politischen Lebens gelernt haben, ist die Tatsache, daß die menschliche Kultur keineswegs das festverankerte Ding ist, für die wir sie einst hielten.“[31] Und doch formuliert hier Cassirer hoffnungsvoll eine Lehre für die Zukunft: Mythisches Denken ist heute eine selbstverschuldete Unmündigkeit. Das heißt auch, dass jede und jeder selbst etwas gegen diese Art der Unmündigkeit tun kann: durch den öffentlichen und freien Vernunftgebrauch, der sich seiner selbst immer wieder versichern muss.[32]

Anmerkungen

[1] Blom, Philipp: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914, München 72015. S. 15.

[2] Vgl. Tenbruck, Friedrich: Neukantianismus als Philosophie der modernen Kultur. In: Ernst Wolfgang Orth/Helmut Holzhey (Hrsg.): Neukantianismus. Perspektiven und Probleme, Würzburg 1994. S. 79. Zu Herders Begriff von Kultur: „Wollen wir diese zweite Genesis des Menschen, die sein ganzes Leben durchgeht, von der Bearbeitung des Ackers Kultur oder vom Bilde des Lichts Aufklärung nennen, so stehet uns der Name frei; die Kette der Kultur und Aufklärung reicht aber sodann bis ans Ende der Erde. […] Der Unterschied zwischen aufgeklärten und unaufgeklärten, zwischen kultivierten und unkultivierten Völkern ist also nicht spezifisch, sondern nur gradweise.“ Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 2 Bände, Band 1, Berlin und Weimar 1965, S. 337.

[3] Vgl. Homann, Harald: Die “Philosophie der Kultur”. Zum Programm des ‚Logos‘, in: Ernst Wolfgang Orth/Helmut Holzhey (Hrsg.): Neukantianismus. Perspektiven und Probleme, Würzburg 1994. S. 95f.

[4] „Logos“, I, 1910/11. S. I.

[5] „Logos“, I, 1910/11. S. III.

[6] „wir wollen auch ein Weltverständnis gewinnen, das, wie man zu sagen pflegt, uns den ‚Sinn‘ unseres Lebens, die Bedeutung des Ich in der Welt kennen lehrt. […] Sinn und Bedeutung aber und ihr Verständnis sind etwas anderes als Sein und Wirklichkeit und ihre Erklärung. Nach Sinn und Bedeutung fragen, heißt in erster Linie Richt- und Zielpunkte auch für unsere Stellungnahme zur Welt, für unser Wollen und Handeln zu suchen. […]  Es mag Denker geben, die meinen, daß solche Fragen nicht in die Wissenschaft gehören.“ Rickert, Heinrich: Vom Begriff der Philosophie. In: „Logos“, I, 1910/11. S. 6.

[7] Eucken, Husserl, Natorp, Riehl, Windelband und Rickert haben eine Erklärung gegen diese Konkurrenz von Philosophie und experimenteller Psychologie abgegeben. Die Begründung ist auch für das Selbstverständnis dieser Philosophen aufschlussreich: „Das [sc. die Besetzung philosophischer Lehrstühle mit experimentellen Psychologen] ist um so bedenklicher, als das philosophische Arbeitsgebiet sich andauernd vergrößert, und als man gerade in unsern philosophisch bewegten Zeiten den Studenten keine Gelegenheit nehmen darf, sich bei ihren akademischen Lehrern auch über die allgemeinen Fragen der Weltanschauung und Lebensauffassung wissenschaftlich zu orientieren.“ Rickert, Heinrich: Erklärung von Hochschuldozenten der Philosophie. In: Helmut Holzhey: Der Marburger Neukantianismus in Quellen. Basel 1986. S. 519-521.

[8] Weber, Max: Wissenschaft als Beruf. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre hg. v. Johannes Winkelmann, Tübingen 1988, S. 582-613; 593f.

[9] Vgl. Nida-Rümelin, Julian: Über menschliche Freiheit. Stuttgart 2012. S. 161.

[10] Troeltsch, Ernst: Die Zukunftsmöglichkeiten des Christentums. In: „Logos“, I, 1910/11. S. 165-185; 185.

[11] Cassirer, Toni: Mein Leben mit Ernst Cassirer. Hildesheim 1981, 190.

[12] Cassirer, Ernst: Vom Mythus des Staates. Hamburg 2002. S. 388.

[13] Meyer, Thomas: Ernst Cassirer. Hamburg 2006. S. 13.

[14] Gerade der Eindruck von Cassirer als Inkarnation vergangener Kulturideale hatten viele der Anwesenden bei den Davoser Hochschultagen 1929. Dieses akademische Großereignis wurde seitdem mit Legenden beladen. Anschaulich eingefangen hat diese Rüdiger Safranski: „Dieser Grandseigneur [sc. Cassirer] des politischen Humanismus und der idealistischen Kulturphilosophie war also von der Veranstaltungsregie in Davos als Widerpart von Martin Heidegger eingeladen worden, der seinerseits für das Neue, Revolutionäre stand.“ Safranski, Rüdiger: Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, Frankfurt a.M. 2011. S. 212. Eine nüchterne und in vielerlei Hinsicht aufklärende Darstellung findet sich bei Meyer, Ernst Cassirer, 154-179.

[15] Krois, John Michael: Zum Lebensbild Ernst Cassirers (1874-1945). Link 15.11.2016: http://www.ernst-cassirer.org/. S. 1f.

[16] Vgl. Ferrari, Massimo: Ist Cassirer methodisch gesehen ein Neukantianer? In: Detlev Pätzold/Christian Krijnen: Der Neukantianismus und das Erbe des deutschen Idealismus: die philosophische Methode. Würzburg 2002. S. 103-122. Ferrari zeigt entlang von vier charakteristischen Lehrstücken des Marburger Neukantianismus (Die Transzendentale Methode, die Neufassung des kantischen Aprioris, die Kategorienlehre und objektivierende Deutung der Subjektivität), wie Cassirer den methodischen Grundpfeilern seiner Lehrer treu bleibt, wenngleich er sie liberalisiert und damit auf einen weiteren Kreis an Kulturphänomenen anwenden kann.

[17] Cassirer, Ernst: Hermann Cohen und die Erneuerung der Kantischen Philosophie (1912). In: Ders.: Aufsätze und kleine Schriften (1902-1921). Hamburg 2001. S. 119-138; 120.

[18] Vgl. Cassirer, Ernst: Die Begriffsform im mythischen Denken (1922). In: Ders. Schriften zur Philosophie der symbolischen Formen. Hamburg 2009. S. 3-61.

[19] Vgl. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil, Das mythische Denken. Hamburg 2010. S. IX-XIV.

[20] Cassirer, Das mythische Denken, 280.

[21] A.a.O., 141.

[22] Cassirer, Ernst: Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie. In: Ders.: Zur Logik der Kulturwissenschaften. Hamburg 2011. S. 135-161; 161.

[23] Vgl. Ferrari, Massimo: Die Kulturphilosophie: Von der transzendentalen Methode zur anthropologischen Philosophie, in: Ders.: Ernst Cassirer. Stationen einer philosophischen Biographie, Von der Marburger Schule zur Kulturphilosophie, Hamburg 2003. S. 283-326; 289.

[24] „Simmel scheint hier die Sprache des Skeptikers zu sprechen; aber er spricht in Wahrheit die Sprache des Mystikers.“ Cassirer, Ernst: Die „Tragödie der Kultur“. In: Ders.: Zur Logik der Kulturwissenschaften. Hamburg 2011. S. 108-132; 111.

[25] Cassirer, Die „Tragödie der Kultur“, 116.

[26] A.a.O.: 128.

[27] Ebd.

[28] Cassirer, Vom Mythus des Staates, 364.

[29] Cassirer, Vom Mythus des Staates, 384.

[30] Ebd.

[31] A.a.O., 389.

[32] Vgl. Cassirer, Ernst: The Myth of the State (1944). In: Ders.: Aufsätze und kleine Schriften (1941-1946). Hamburg 2007. S. 251-265, 264f.

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